Ich bleibe bei mir, ohne dich zu verlassen

Ich spreche so, dass ich mich nicht verliere –
und höre so, dass du dich nicht verteidigen musst.

Ein bevorstehendes Gespräch
Mit leichter Ungewissheit in mir sehe ich einem Gespräch mit einer mir lieben Person entgegen. Wir wollen darüber sprechen, wie Nähe wachsen kann, ohne dass Freiheit kleiner wird. Wie wir Verbindung vertiefen können – bei gleichzeitiger Anerkennung des ganz Eigenen.

Nicht, dass ich mir meiner Wichtigkeiten, Bedürfnisse und Möglichkeiten nicht bewusst bin. Nein – und da hat mich ein Zitat aus der NZZ von heute Morgen sehr abgeholt – ich frage mich vielmehr, wie ich in unserer Begegnung die Würde und Freiheit von jedem von uns anerkennen und bewahren kann.

Wie kann ich also sprechen, ohne mich zu verlieren? Und wie kann ich zuhören, ohne dass du dich verteidigen musst?

Ein Wunsch, der alles veränderte
Dazu fällt mir ein Erlebnis ein. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater nach Erhalt seiner Diagnose Alzheimer einmal zu mir sagte:

„Ich spreche jetzt einmal über diese Entwicklung in meinem Kopf – und dann nie wieder.
Und ich wünsche mir, dass ich würdevoll behandelt werde.“

Das berührte mich zutiefst. So klar, so aufrichtig war dieser Wunsch. Nicht, dass ich zu diesem Zeitpunkt hätte formulieren können, was Würde für mich genau bedeutet. Und ich brauchte aber auch keine Worte dafür zu finden.
Von diesem Moment an begegnete ich ihm nicht mehr mit inneren Etikettierungen wie Vater, alternder Mensch oder Kranker. Ich wollte ihm als Mensch begegnen:

mit seinen aufflammenden Ideen,
seinen humorvollen Einlagen,
seinen moralisch leicht anstössigen Bemerkungen, die mit zunehmendem Alter weniger Filter durchliefen,
mit seinem Verwirrt-sein,
seinem Berührt-sein,
seiner Einzigartigkeit.

Diese Begegnungen taten gut. Ich denke, uns beiden. Und sie waren nur möglich, weil ich mich dabei nicht verloren habe. Weil ich bei mir blieb, ohne ihn zu verlassen.

Würde im Gespräch – eine leise Ausrichtung
Ich überlege nun, worauf ich verzichten möchte oder worauf ich achten will im Gespräch mit meinem Gegenüber, um Würde und Freiheit ins Zentrum zu stellen. Nicht nur für meine Gesprächspartner – auch für mich. Denn wir sind zwei oder mehrere in einem Gespräch.

Uns alle verbindet – jenseits aller Unterschiede – der Wunsch, glücklich zu sein. Allein dieses Bewusstsein weitet etwas in mir, was sich sonst schnell verengt: Wenn ich recht haben will. Wenn ich belehren möchte. Wenn ich be- oder verurteile. Wenn ich in Eile bin.

In dieser inneren Weite erlebe ich,

  • dass Würde Zeit braucht – nicht viel, aber echte

  • dass Würde Sprache braucht, die offen bleibt

  • dass Würde das Recht braucht, unfertig zu sein

  • dass Würde ein Gegenüber braucht, das nicht schon weiss


Meine Würde nicht verlieren
Und wie steht es um meine eigene Würde und Freiheit in solchen Situationen? Wie halte ich die Balance zwischen meiner Absicht, das Gegenüber anzuerkennen in dem, was gesagt und gefühlt wird, und meinem eigenen Temperament, meinem Rhythmus, meinem inneren Tempo?

Ich achte darauf, mich nicht zu verleugnen, mein Denken nicht zu verstecken, mein inneres Tempo mir selbst nicht zu verbieten, mich innerlich nicht zu verkleinern und mich aus Höflichkeit nicht stumm zu machen. Denn wenn das geschieht, wird ebenfalls Würde verletzt – meine eigene.

Würde heisst auch:

Ich darf da sein,
mit meiner Lebendigkeit,
meinem Tempo,
meiner Klarheit.

Ein Ja zum gegenwärtigen Moment
Wenn ich nun an das bevorstehende Gespräch denke, hat das für mich etwas mit Selbstliebe zu tun. Nichts Süsses. Nichts Rosarotes. Sondern dieses bedingungslose Ja-Sagen zum Lebensmoment – mit allen Gedanken, Gefühlen, Ungewissheiten und Ängsten. Und ebenso mit allen Freuden, Zuversichten und vorwärtsdrängenden Energien.

Dieses Ja-Sagen möchte ich immer wieder kultivieren. Nicht nur, wenn ich mit mir allein bin, sondern gerade dann, wenn es um Gemeinschaft geht. Denn ich bin Teil davon.



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Wenn Schweigen plötzlich laut wird