Wenn Schweigen plötzlich laut wird

Über Interpretationen in Gesprächen – und warum sie uns so verunsichern können

Es war still am Ende der Telefonleitung. Meine Schwester reagierte auf meine Entscheidung nur mit einem kurzen, anerkennenden – und zugleich fragenden – Aha, okay…?

Ich hatte ihr mitgeteilt, dass ich den geplanten Adventskalender, den wir gemeinsam vorgedacht hatten, doch nicht gestalten würde. Und dieses Aha löste in mir sofort etwas aus. Ich hatte das Gefühl, sie verstehe meine Entscheidung nicht. Vielleicht fand sie mich bequem. Vielleicht war sie enttäuscht, weil sie sich selbst Gedanken gemacht und Ideen beigetragen hatte.

Diese Annahmen – oder sagen wir: diese Interpretationen der stillen Momente – hinterliessen ein ungutes Gefühl in mir. Ich selbst war unsicher mit meiner Entscheidung. Ich hatte mich eigentlich auf das Tun gefreut, auf die Überraschung des Empfängers, auf das kreative Gestalten. Und plötzlich fühlte ich mich weniger verbunden – nicht mit meiner Schwester, sondern mit dem Menschen, für den dieses Geschenk gedacht war.

Viele Menschen kennen solche Situationen:
Ein Blick, ein Schweigen, ein einzelnes Wort – und innerlich beginnt ein ganzes Gedankenkino.

Wenn Gedanken Wirklichkeit werden
All diese Gedanken und Gefühle blieben unausgesprochen im Raum stehen. Es waren Konstrukte, Fantasien, Annahmen, die ich mir aus dem Moment heraus erschaffen hatte. Und ich habe in diesem Augenblick nicht nachgefragt.
Nicht gefragt: Wie meinst du dein „Aha, okay“? oder: Was geht dir gerade durch den Kopf, wenn du das hörst? Dabei hätte es viel zu klären gegeben.

Interessanterweise hatten meine Interpretationen in dieser Situation jedoch eine unerwartete Wirkung. Sie wurden zu einer Art innerem Antrieb. Ich spürte plötzlich eine Energie, etwas nicht einfach aufzugeben, sondern auszuprobieren, wie weit ich kommen würde, wenn ich mich doch an die Gestaltung machte.

Und ich war selbst überrascht, was möglich wurde. Ohne grosses Zweifeln an meinen Fähigkeiten. Ohne inneres Kalkulieren, wie lange alles dauern könnte. Ohne Grübeln über Schlafmangel. Stattdessen entstand ein Raum der Gestaltung, in dem Ideen sichtbar werden durften – ohne sie tausendfach zu hinterfragen.

Interpretationen können blockieren – oder beflügeln
Interpretationen haben eine enorme Kraft. Sie können bestärken. Sie können aber auch Unsicherheiten nähren und Gedankenschleifen auslösen. Was entscheidet denn darüber, wie wir interpretieren?

Aus meinem eigenen Erleben weiss ich: Meine Deutungen hängen stark von meiner inneren Verfassung ab. Von meiner Stimmung, meiner Erschöpfung, meiner Vorfreude oder meinen Zweifeln. Hätte ich im oben beschriebenen Beispiel bereits tief in mir gezweifelt, ob diese Idee wirklich gut ist, hätte ich das Schweigen meiner Schwester vermutlich als Erleichterung erlebt. Als Bestätigung, es besser sein zu lassen.

Da ich jedoch eine stille Begeisterung und Vorfreude in mir trug, deutete ich dieselbe Reaktion als Enttäuschung. Erstaunlich – und zugleich sehr menschlich –, wie schnell und automatisch das geschieht.

Sind meine Interpretationen wahr?
Meine Einsicht daraus ist schlicht – und doch weitreichend: Die Bedeutungen, die ich innerlich erlebe, sind nicht zwingend wahr. Sie sind abhängig von meiner aktuellen Gedanken- und Gefühlslandschaft. Habe ich gut geschlafen, ein nährendes Gespräch geführt oder eine wertschätzende Rückmeldung erhalten, beeinflusst das nicht nur meine Entscheidungen, sondern auch meine Bewertungen von Situationen und Menschen.

Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt meiner Interpretationen ist also berechtigt. Diese sogenannte „Wahrheit“ ist beweglich. Kontextabhängig. Und oft weniger stabil, als sie sich anfühlt.

Klären statt grübeln
Was kann ich tun, um mehr innere Klarheit zu gewinnen? Ich kann nachfragen. Ich kann meine Deutung offenlegen und fragen: Habe ich dich richtig verstanden?

Solche Klärungen schützen vor langem Grübeln. Sie verhindern, dass ich anderen Bedeutungen zuschreibe, die nie ausgesprochen wurden – und sie bewahren Beziehungen davor, sich unbemerkt zu verändern. Klärung garantiert keine Harmonie. Aber sie schafft Boden. Boden, auf dem mein Erleben auf etwas mehr Wirklichkeit beruht.

Der Mut zur Klärung
Es braucht Mut, solche Fragen zu stellen. Mut, sich mit eigenen Vermutungen zu zeigen. Mut, verletzlich zu sein.

Und ja – wir sind verletzlich. Vielleicht viel öfter, als wir es zeigen möchten. Das Nicht-Aussprechen führt jedoch häufig in den Rückzug. Gerade bei unangenehmen oder negativen Interpretationen. Dabei können mutige Augenblicke zu Sprungbrettern werden. Zu neuen Erfahrungen. Zu einem anderen Umgang mit Unsicherheit. Vielleicht beginnt er mit einer einfachen Frage: Was nehme ich eigentlich an – und was davon ist heute noch wahr für mich?

Ein Plädoyer für Klärung.
Und für das Sammeln jener unüberprüften Annahmen, die wir leben, als wären sie Wahrheiten.

Hinweis:
Dieser Text ist eine Vertiefung zu Folge 22 des Podcasts „DenkSeiDank“.


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Der gute Egoismus – warum Veränderung bei mir beginnt